Kapitel 4 - Gemeinschaft – Gemeinschaftsbewegung – Kirche (überarbeitet 2025)

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GESCHICHTE DER CHRISTLICHEN GEMEINSCHAFTEN ST. MICHAEL


Autor: Max Diedrich (1958), überarbeitet von Hellmut Hentschel (2025)







Kapitel 4 - Gemeinschaft - Gemeinschaftsbewegung - Kirche
Nachdem das "Christliche Vereinshaus" entstanden war, zeichnete sich ein Komitee aus drei Männern dafür verantwortlich, denn dieses Werk unterschied sich ganz deutlich von Stöckers Stadtmissionsarbeit. Wenn auch Graf Pückler an vaterländischer Gesinnung und an brennender Liebe zum Arbeiter hinter Hofprediger Stöcker in nichts zurückstand und Stöckers Arbeit hoch einschätzte, denn er sagte über ihn, dass er eine Arbeit geleistet habe, an die wohl kein Zweiter sich heranwagen würde, denn in dieser Arbeit, die bahnbrechend für ein christliches Werk gewesen sein, hatte Stöcker als Fels im Meer gestanden, als es darum ging, am besten alle Menschen in Berlin mit dem Evangelium zu erreichen und sie zu einem erfüllten Leben mit Jesus zu führen, war es Pückler doch klar geworden, dass Gott ihm eine besondere Aufgabe anvertraut hatte, und dass Schlümbachs Evangelisationen ihn auf einen anderen Weg führten. Stöckers Wirken erschien ihm zu politisch, Schlümbachs mutiges Zeugnis von dem Heiland schien mehr Herzen der Arbeiter für das Evangelium zu öffnen. Viel später, im Jahre 1908, hat Pückler geschrieben, durch Schlümbachs Lieder und amerikanische Geschichten sei erst der Boden für die wirkliche Reichsgottesarbeit geschaffen worden.


Die Worte "Gemeinschaft" und "Gemeinschaftsbewegung" klangen damals in vielen Ohren von gläubigen Menschen fremd, da niemand etwas davon wusste. Alle, die hier mitwirkten, betraten ein unbekanntes Land und waren eigentlich viel zu jung an Lebens- und Glaubenserfahrung. Sie dienten Gott in den evangelischen Kirchen mit gläubigen Pfarrern, die sie sonntags besuchten und bei denen sie sich an den Gottesdiensten, Abendmahlsfeiern und Bibelstunden oder -gesprächskreisen rege beteiligen konnten.

Unter welchen Namen man dieses neue Werk, das sich hier anbahnte, stellen sollte, damit die Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche es verstehen könnten, war ihnen allen noch unklar. Man dachte an die in der Kirche einzig mögliche und verständliche Art und Form eines "Missionsvereins“. Man sprach ja ganz offen von den "Heiden in Berlin". So bekam zunächst diese Arbeit Vereinsform, jeder, der dieses Werk unterstützen und sich an ihm beteiligen wollte, konnte beitreten; man hoffte, die gewonnenen Mitglieder dann im Laufe der Zeit für das "Christsein" interessieren zu können. Damals meinte Graf Pückler, man dürfe nicht so sehr auf wiedergeborene Menschen bei Bildung der Gemeinschaften sehen, vielmehr solche sammeln, die mit Ernst Christen sein oder werden wollen, dennoch besteht er darauf, dass ein Grundstock lebendiger Christen da sein musste, damit die Schwächeren hier eingebunden werden konnten, aber er auch eher häufig Zeuge, wenn, auch bei vielversprechenden Anfängen, in der ersten Zeit sich zahlreiche Ausscheidungen, Ausschließungen, ja selbst Massenaustritte ereigneten. Wo man bei der Aufnahme die Arme weit aufmacht, müsse durch Gottes Wort und Geist eine Scheidung der Geister herbeigeführt werden. Es geschah aber auch, dass durch diese ernsten Maßnahmen den Ausgeschlossenen vor Augen geführt worden war, dass selbst diese eine heilsame Wirkung herbeigeführt hatten, denn oft kehrten sie reumütig zuück und erst dadurch neue Menschen geworden. Nach zehn Jahren noch gestand Pückler seinen Fehler von 1883 ein - man konnte das ja keinen Fehler nennen, Pückler selbst hatte keine Erfahrung und konnte niemand fragen -, sein erster Verein habe nicht viel getaugt, es sei Vorhofsarbeit gewesen, die damals geleistet wurde - (der Fortschreiber sagt hierzu: "Nicht im Sinne eines mangelhaften Anfangs, sondern als Ausdruck dafür, dass geistliche Gemeinschaft immer zuerst im Vorhof beginnt. Denn ins Allerheiligste, in die unmittelbare Gegenwart Gottes, kann die Gemeinde nicht aus eigener Kraft gelangen. Das bleibt dem Herrn vorbehalten, der erwählt, nicht nur beruft. So wurde die Gemeinschaftsbewegung zu einem Ort der Sammlung und Vorbereitung – aber die eigentliche Erneuerung geschieht dort, wo Gott selbst das Herz berührt."). Wie dankbar und froh wird Pückler gewesen sein, als in dieses Werk der ältere Graf Bernstorff eintrat! Nach zehn Jahren, hat Pückler gesagt, habe man erst ganz klar gesehen und gewagt zu bekennen, dass man bekehrt sei, und habe bewusste Gemeinschaftsarbeit getan. Später ist man dazu übergegangen, erst die Menschen zu lebendigen Christen zu machen und dann in Gemeinschaften zusammenzuschließen, wenn sie klar bekehrt sind, sich bewährt hatten und bereit waren, dem Herrn zu dienen. Denn es war dem Grafen Pückler ganz klar: Bekehren könne kein Mensch den andern, das habe Gott Seiner Macht vorbehalten. Die Bekehrung nannte er einmal einen souveränen Akt Gottes.

Sodann war dem Grafen auch dies als Notwendigkeit klar geworden, dass dieses Volk, das zerstreut und verschmachtet ohne Hirten aufwachsen muss, das nirgends eine Stätte findet, wo es wieder zu sich selbst kommen und sich mit anderen im selben Geist vereinigen kann, eine Gemeinschaft braucht. Solche Gemeinschaften sollten den entwurzelten, gänzlich isolierten und einander entfremdeten, in Klassenhass zertrennten Arbeitern zweite Heimat werden. Weiter sah er schon von Anfang an, dass diese Arbeit in völliger Freiheit von der Kirche getrieben werden müsste, nicht bloß darum, weil damals schon der Hass gegen die Kirche und die "Pfaffen" lichterloh brannte und diese haßerfüllte Arbeitermenge nicht zu gewinnen war, wenn man im Namen der Kirche kam.

In der Kirche gab es damals keine Einrichtung, die solch ein christliches Gemeinschaftsleben, das auf innere Herzenserneuerung und Herzensstärkung und Sammlung aller Gläubigen eingestellt war, in größerem Umfang ermöglichte. Das geordnete Pfarramt, die kirchliche Einordnung, die sich um der kirchlichen Ordnung stets als notwendig erweist, der vielbeschäftigte Pfarrer, der für die ganze Gemeinde da sein soll und morgen schon durch einen ganz anders gerichteten Pfarrer abgelöst werden konnte, werden nie rechtes Gemeinschaftsleben pflegen können.

Auf der Gnadauer Pfingstkonferenz 1890 hielt Graf Pückler einen Vortrag über "Die Gemeinschaftspflege in der Stadt": Wenn in einem Stübchen irgendeines Hauses eine Zahl Seelen sich zusammentut, hat das zunächst weder auf die Großstadtgemeinde noch auf die Einwohner irgendwelchen Einfluss. Das Getriebe öffentlichen Lebens flutet unberührt daran vorüber. In der ersten Christenheit trat das Christentum mitten unter sie als erste gemeinschaftsbildende Kraft. Heute, wo die Großstädte in rapidem Wachstum sich befinden, geht ein Schrei nach Gemeinschaft und Organisation durch die Großstadtgemeinde. Ein damals bekannter Pastor trat, damit wieder Gemeinden entstehen könnten, nicht nur zu gemeinsamer Andacht, sondern zu gemeinsamer Tat, für Teilung der großen Gemeinden in kleine Gemeinden von 5000 Seelen oder wenigstens für Teilung der großen Parochien in Seelsorgebezirke, für Bau von Gemeindehäusern ein, damit sich die Gemeindeglieder kennenlernen und vereinigen können. Graf Pückler sah ganz richtig, wenn er sagte, diese Vorschläge seien alle sehr gut, aber sie würden die Kinder Gottes ebensowenig sammeln, wie die Gemeinschaftsorganisationen der Liebe Christi wegen entstehen lassen würden. Auch die zerschlagenen Gemeinden werde man schwerlich zu einer mitarbeitenden, christlichen Gemeinschaft organisieren können. Auch der Neubau von Kirchen biete keine Garantie, dass um diese Kirchen sich etwa die Gläubigen sammeln und einander nähertreten würden. Demgegenüber stellte er fest, wie der Unglaube und die Sozialdemokratie fester und fester ihre Anhänger zusammenschließen, während die kleinen Häuflein der Christen zerstreut leben, wenn es auch hier und da ein Vereinchen, ein Bibelkränzchen gäbe, so müsse man die einzelnen Seelen mit ihren Kämpfen und Nöten in fürchterlicher Umgebung zu dem Haufen christlichen Gemeinschaftslebens hinführen.

Auch was 1890 Graf Pückler über das Verhältnis der Gemeinschaft zur Kirche sagte, indem er sich an Luthers Deutsche Messe anschloss, ist noch für heutige Verhältnisse gültig: Schon Luther habe es anerkannt, dass solche Gemeinschaften nur auf privatem, nicht auf kirchenregimentlichem Wege entstehen könnten, und dass ihrem Bestehen innerhalb der offiziellen Kirche keinerlei Hindernisse entgegenstehen. Graf Pückler versicherte damals in Gnadau, dass er zwischen dem Wirken seiner Gemeinschaften und den Ordnungen der Kirche nicht den mindesten prinzipiellen Differenzpunkt habe entdecken können. Nicht nur, dass unsere Gemeinschaften kirchlich sein wollen, sie sind es tatsächlich. Er will durchaus loyal sein, denn die Gemeinschaftsarbeit als solche befruchtet die Kirche, wenn sie auch für die unsichtbare Welt schließlich allein kämpft. Jede einzelne Gemeinschaft ist an eine bestimmte Kirche angelehnt, besucht deren Gottesdienste und feiert in ihr gemeinschaftlich das Abendmahl. Weil die Mitglieder den öffentlichen Gottesdienst besuchen, finden am Sonntagvormittag keine Versammlungen statt (einige wenige Gemeinschaften haben sogar bis in die heutige Zeit überhaupt keine Sonntagsversammlungen). Unser Wirken stört keine kirchliche Ordnung, sondern ergänzt sie vielmehr. Oft werden durch die Arbeit der Gemeinschaft der Kirche solche Seelen wieder zugeführt, die ihr ganz entfremdet sind. So wird nicht nur das Reich Gottes gebaut, sondern die Kirche gestärkt.

Das auszusprechen bedeutet nicht unkirchlich zu denken, sondern bedeutet lediglich, die Wirklichkeit zu nehmen, wie sie ist. So wird auch niemand dem Grafen nachsagen können, dass dieser Graf unkirchlich gewesen sei oder auch nur unkirchlich gedacht habe. Er hat, wie schon erwähnt, stets am Sonntagvormittag unter der Kanzel gesessen, zunächst unter der Kanzel seines Freundes, mit dem ihn auch das ganz persönliche "Du" verband, des Generalsuperintendenten D. Braun von der Matthäikirche. Zu Festrednern und Abendmahlsfeiern hat er sich oft genug Pfarrer im Kirchenamt herangeholt oder ist selbst in die Kirche gegangen. Trotz allem hat er sich die Freiheit des Denkens und Handelns erhalten. Eine wirkliche Reichsgottesarbeit, die nichts anderes als das sein will, lässt sich nur auf freiem, privatem Wege treiben, unabhängig um die jeweilige Haltung und Leitung der Kirche und der betreffenden Kirchengemeinden. Diese Erfahrungen, die Graf Pückler machte, brachten jene denkwürdige und bis auf den heutigen Tag in ihrer Richtigkeit bestätigte Formel hervor, die Professor Theodor Christlieb für den später gegründeten Gnadauer Verband mit Graf Pückler zusammen in die Form goss: „In der Kirche, wenn möglich mit der Kirche, aber nicht unter der Kirche.“

Unter den führenden Männern des Gnadauer Verbandes war Graf Pückler einer von denen, die das eigentliche Wesen der Gemeinschaftsbewegung und ihr richtiges Verhältnis zur Landeskirche theoretisch am klarsten erfasst hatten, wozu wohl nicht wenig seine gründliche Kenntnis der Kirchengeschichte beitrug. "Mit Recht wies er auch immer darauf hin," schreibt hierzu Herr Regierungsrat Müller, "dass die Gemeinschaftsbewegung eine Laienbewegung bleiben muss. Vielleicht war es dieser Grundsatz, vielleicht auch die Arbeitsweise in den Siegerländer Gemeinschaften, die er bereut hat, oder beides zusammen, die ihn veranlassten, möglichst wenig mit beruflichen und beruflich vorgebildeten Brüdern zu arbeiten. Man übersieht jedoch hierbei leicht den Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen. Tragen schon die reformierten Gemeinden des Westens an sich von jeher mehr Gemeinschaftscharakter als die meist lutherischen Gemeinden des Ostens, so darf man nicht unberücksichtigt lassen, dass die Gemeinschaften des Westens auch viel älter sind und wirkliche christliche Charaktere herangebildet haben, die führend sein können. Der verstorbene P. Wittekindt sagte einmal: ,Der Westen ist dem Osten um 100 Jahre voraus.'

Die Gründer der Gemeinschaftsbewegung hatten am Anfang das Ziel, dass "Berufsarbeiter" - heute würde man sagen "hauptamtliche Christen" - sich durch die Heranbildung von Laienkräften überflüssig machen sollten. Jedoch war schon bald nach der Gründung klar, dass sich große und damit vermögendere Gemeinschaften einen eigenen Prediger leisten konnten, besonders dann, wenn sich zwei oder drei Gemeinschaften einen solchen "Hauptamtlichen" teilten. Doch schon zu Zeiten Pücklers hieß es, dass man lange darauf warten kann, bis sich eine Gemeinschaft ohne "Hauptamtliche" fortpflanzen kann. (Anmerkung des Fortschreibers: Die Personaldecke bei allen christlichen Leitungsarbeiten, die unentgeltlich geleistet werden, ist sehr dünn geworden. Die "Ein-Arbeiter-ist-seines-Lohnes-Wert-Front" wächst und kein Christ kann ich heute mehr vorstellen, allein von Jesus abhängig zu sein, und, was noch schlimmer ist: Kaum so jemand würde von den Menschen überhaupt respektiert werden. Ein Christ, der im Herzen brennt und die Liebe Gottes verbreiten will und auf die Frage eines Ältesten, wie häufig er neben seinem Beruf unterwegs für Gott ist und ehrlich antwortet, wird schnell zurechtgewiesen, dass er sich lieber um seine Familie als um diese Anliegen kümmern soll. Und ein Hauptamtlicher, der auf seinen freien Tag besteht, hat von dem Privileg, was es heißt, Jesus hauptamtlich zu dienen, leider nicht viel verstanden, und entsprechend ist der Zustand seiner Arbeit).

Wer selbst Jahrzehnte eine Gemeinschaft nebenamtlich betreut hat, der weiss am besten, was für eine Belastung dies bei dem Mangel an mitarbeitenden Kräften in Berlin und der Mark bedeutet. Darum sollte kein berufener Vertreter des geordneten Kirchenamtes und kein Vertreter der Gemeinschaftsbewegung an diesem Satz rütteln, wenn er nicht etwas Besseres an die Stelle setzen kann. Doch ehe wir noch zu den heutigen Kämpfen um das Verhältnis der Gemeinschaftsbewegung und Kirche zueinander Stellung nehmen, will ich noch Graf Pücklers weitere Arbeit in der Gemeinschaft beleuchten.

Graf Pückler sah es als Zeit der Gnade an, dass ihm Gott so viele Tausende Christen in der St. Michaels-Gemeinschaft anvertraut hatte, während man Jahrzehnte später und heute "jeden einzelnen Menschen dem Teufel und der Welt abringen muss."

Man ging mit dem klaren Evangelium von Jesu rettender Gnade direkt zu den Menschen – dorthin, wo sie lebten: an Hecken, Zäune und Straßen. Das Zeugnis wurde von Männern gesprochen, die das Heil selbst erfahren hatten und es in volkstümlicher Sprache weitergaben – wie Luther es dem Volk „vom Munde abgelauscht“ hatte.

Neu war auch, dass die Arbeit im Norden Berlins von schlichten, einfachen Persönlichkeiten getragen wurde – aus dem Arbeiterstand, aus gebildeten Kreisen und sogar aus dem Adel. Es war echte Laienarbeit, wie sie Schlümbach empfohlen hatte. Einige ausgebildete Kräfte nahm Pückler hinzu – etwa den Prediger Manitz, der ins Johanneum geschickt wurde und bis heute im Werk tätig ist. Zum ersten Mal wurden hier die durch den Sozialismus absichtlich geschaffenen Gräben zwischen den Ständen – zwischen Kapitalisten und Proletariern – überbrückt. Es entstand Gemeinschaft zwischen allen.

Für jede Altersstufe müsse Raum sein, so dass sich ein Familienvater mit Frau und Kind anschließen kann, und möglichst müssen - auch wenn ein "Hauptamtlicher" vorhanden sei - alle Arbeiten von den Mitgliedern der Gemeinschaft selbst getan werden.

Nie ist wohl wieder in Berlin solche Zeit gewesen, in der neben Arbeitern und den ärmsten Schichten des Volkes die oberen Schichten, Vertreter des Adels und der akademischen Bildung sich zu Jesu Füßen setzten und ihr Leben Jesu auslieferten und ihm an den ärmsten und verkommensten Brüdern dienten. Wahrlich, eine seltene Verkörperung dessen, was die Bibel Gemeinschaft nennt!

Das tägliche Gebet in den ersten Jahren - noch 1889 wird das erwähnt - zwischen 1230 und 1300 Uhr im Hospiz Behrenstr. 29 zeigte auch die rechte biblische Wesensart der St. Michaels-Gemeinschaft.

Im "St. Michaels-Boten" schreibt Pückler: "Die Christliche Gemeinschaft St. Michael arbeitet in evangelistischer Weise unter den Arbeitermassen der Großstadt, in der der einzelne sich im allgemeinen vergeblich nach einem festen Halt für sein privates Leben umsieht. Die dem Evangelium zugänglichen Elemente haben sich in christlichen Gemeinschaften zusammengeschlossen, in denen der einzelne geistliche Pflege findet. Der Boden in Berlin ist wunderbar bereitet für christliche Arbeit, doch kann sie ohne evangelistisch gebildete Männer - so 1894 geschrieben - und ohne Vereinshäuser und Vereinsräume nicht getrieben werden. Noch mehr Arbeit ließe sich tun. Darum helfe, wer kann! Darum gründete er den Freundeskreis mit beliebigen Jahresbeiträgen, der bis heute noch besteht, wenn er auch im letzten Jubiläumsjahr erst zu neuem Leben wieder erweckt werden konnte.

Dieser Freundeskreis brachte auch jährlich Tausende von Mark für das St.- Michaels- Werk auf und trug das Werk auf betenden Händen wovon die täglichen Gebetsstunden der ersten Jahre, wie schon erwähnt, ein beredtes Zeugnis sind. Leider ist der Freundeskreis seit dem Tode des Grafen sehr vernachlässigt und infolgedessen sehr zusammengeschmolzen, die Gebefreudigkeit hat infolgedessen sehr gelitten, die Verarmung dieser Kreise tat ein Übriges. Doch sind wir dabei, die Reste dieses Freundeskreises wieder zu interessieren und zu sammeln.

Und wenn es wahr ist, dass ein jedes Werk nur durch dieselben Kräfte erhalten bleiben kann, durch die es einst ins Leben gerufen wurde, so können wir das bei der Gemeinschaftsbewegung im allgemeinen und bei unserem St.-Michaels-Werk im Besonderen als Wahrheit feststellen.

Die Evangelisation – die volkstümliche, das Gewissen ansprechende Verkündigung des Evangeliums von Christus, dem Retter der verlorenen Menschheit, für die ER ans Kreuz ging, um sie mit seinem Blut von aller Sünde rein zu waschen und Gott, den Vater, mit dem gottfernen und gottfeindlichen Menschen zu versöhnen, hat unser St.-Michaels-Werk ins Leben gerufen. So blieb es. Graf Pückler und neben ihm der schlichte Laie, ein Fabrikarbeiter, ein Sekretär, ein Offizier, ein Baron, aber ebenso auch der landeskirchliche Pfarrer und der Prediger standen in den Evangelisationsversammlungen vor dem aufhorchenden Volk, um ihm Buße zu predigen. Die neuen Evangelisationslieder, von denen der Graf 519 Lieder in seinem St.-Michaels-Liederbuch zusammenstellte, zogen durch ihre frische, fröhliche Art die Leute aus dem Volk ebenso an wie auch, damals wenigstens, die vornehmen Kreise.

Um an die Massen heranzukommen und sie unters Wort Gottes zu bringen, tat der Graf etwas, was damals unerhört war, heute fast bei den riesigen politischen Demonstrationen und Sprechchören überlebt oder überwunden erscheint: er ging ins Freie, auf die Höfe, auf die unbebauten Plätze in der Stadt, in die Parks und verkündete den vielen, die nie mit Gottes Wort in Beziehung kamen, die suchende Liebe des Heilandes, der niemand verlorengehen lassen möchte. Dankbar, mit Tränen im Auge und mit Geldgaben begrüßten die einen diesen für Deutschland und Berlin ganz neuen Weg, andere antworteten mit Hohn und Spott und offener Gegnerschaft.

Die Evangelisationen in den Vereinsräumen blieben der Mittelpunkt. Um sie segensreich zu gestalten und immer neue und fremde Kreise hineinzuziehen, sammelten sich in verschiedenen Wohnungen die Mitglieder von St. Michael zum Gebet. Andererseits ging man auf die Höfe jener großen Häuserblocks, in denen oft 40 bis 50 Familien wohnen, man sang ihnen christliche Lieder vor, die mit kurzen, schlichten Zeugnissen abwechselten, und lud zu den Abendversammlungen und Festen ein.

Dazu kamen die großen Feste: das Himmelfahrtsfest in der Jungfernheide, wohin man in der ersten Zeit schon am frühen Morgen hinauspilgerte, später nachmittags in großem Festzuge mit Kindern und der St.-Michaels-Jugend als Spitze unter dem Banner, das heute noch beim Himmelfahrtsausflug aufgestellt wird, damit jedem Menschen klar gesagt wird: Jesus ist der einzige Retter. Oft genug ist der Ausflug verregnet und musste deshalb verlegt werden, einmal wurde er in eine Dampferpartie umgewandelt. Jahre hindurch hat sich die Heilandsgemeinschaft von Fräulein von Hennigs beteiligt. Seitdem die Polizei infolge politischer Unruhen Demonstrationszüge wiederholt verboten hat, sind diese Straßenumzüge unterblieben. Man kommt jetzt in der Jungfernheide selbst zusammen, je nach Zeit und Umständen beteiligen sich alle l4 Michaelsgemeinschaften. Man hat daraus ein fröhliches Familienfest gemacht. Kinder und Jugendliche haben ihr eigenes Programm, die Jugend spielt und singt. Chorlieder, allgemeine Gesänge, Posaunenklänge locken viele Fremde an, so dass oft ein Kreis von mehr als Tausend den fröhlichen Zeugnissen zuhört an einer Stätte, wo sie oft glaubten, ganz unter sich zu sein und dem frommen Glauben entronnen zu sein und in der Natur ihren Gott "anbeten" zu können.

Um die Pfingstzeit haben im Garten des Hausministeriums, später im Charlottenhof im Tiergarten in der Nähe der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche, die St. Michaels- Gemeinschaft und der CVJM, Wilhelmstraße 34, gemeinsam jedes Jahr ein Gartenmissionsfest gefeiert, bei dem Kaffee und Kuchen zugunsten der Heidenmission verkauft wurden und Zeugnisse von Vertretern beider Werke sowie der Heidenmission diesen Festen ein besonderes Gepräge verliehen. Leider sind diese Feste eingeschlafen, und St. Michael steht in Verdacht, als ob es für die Heidenmission kein Herz und kein Geld mehr habe.

Was auch ganz aufgehört hat, aber schon seit langer Zeit - das letzte Mal hat diese Veranstaltung im Kriege 1915 stattgefunden - ist der sogenannte Landproduktenverkauf Anfang Dezember jeden Jahres, der oft mehr als 3000 Mark für unser Werk einbrachte. Die Beziehungen, die Graf Pückler und Graf Bernstorff zum Adel des Landes besaßen, führten dazu, dass diese beiden Verkaufstage über viele Jahre hinweg eine große Hilfe für unser Werk waren.

Was aber geblieben ist und ganz im Rahmen unserer St.-Michaels-Arbeit liegt, das sind die drei großen Versammlungen, die für unser Werk und für alle Abteilungen, wie auch für die fernstehenden Arbeitermassen, eine Quelle unendlichen Segens bis heute gewesen sind: Das große St.-Michaels-Dankfest am Sonntag um den St.-Michaels-Tag, den 29. September herum im Saal der Wedding-Gemeinschaft, Schönwalder Straße 21, auf dem Berichte aus allen Abteilungen mit kurzen Ansprachen abwechseln, und das den großen, tausend Menschen, ja, der bei ausreichender Bestuhlung auch 1500 Menschen fassen kann, bis auf den letzten Platz füllt. Diesem Fest schliesst sich seit Jahren, gewissermaßen für den Ausfall des Landesproduktenverkaufs, die Dankopferwoche an, die ebenalls Erträge von mehr als 3000 Mark gebracht hat. Dann die großen Bußtags-Evangelisationen in demselben Saal, die ernst und schlicht große Massen unter das Wort bringen.

Noch immer findet auch am Karfreitag viele Jahre hindurch - seit der Evangelisation durch Prediger Rubanowitsch - in den selben Germania-Sälen, Chausseestraße 111, die große Karfreitagsfeier, nachmittags 3 Uhr, statt, der nach alter Überlieferung ließt Br. Manitz unter dem Wechselgesang der vereinigten St.-Michaels-Chöre die "Sieben Worte am Kreuz" verliest und meist drei Redner, darunter oft ein zufällig in unseren Gemeinschaften arbeitender fremder Bruder, der Schar, die meist aus ganz fernen Kreisen durch Zettelverbreitung und Säulenanschlag zusammenkommt, das Wort vom Kreuz dem haltlosen, aber hoffnungsvollen Volk nahebringen. Daneben geben dann große Abendmahlsfeiern an den Festtagen, die Passionsfeiern, wie sie im März des letzten Jahres nach dem Deklamatorium des neuen Präses: "Der Heiland, eine Feier unter dem Kreuz" stattgefunden hat, ferner Silvesterfeiern und andere mehr, alles mit dem Ziel, dem Volk, das in Sünden und Gottesferne dahinlebt, zu dienen und es zu dem lebendigen Wasserquell zu führen, nachdem die löcherigen Brunnen es haben verdursten lassen.

Nun noch ein Wort über den Namen "St. Michael". Als ein Pastor Humburg einst, unter dem Bild des Erzengels Michael im Hospiz stehend, nach dem Zusammenhang dieses Namens mit seinem Werk fragte, ntwortete Graf Pückler mit einem vielsagenden, fast wehmütigen Blick: ‚Ein Jugendtraum.' Weiter hat Pastor Humburg aus dem Grafen nichts herausbekommen.

In Nr.2 des "Michaelsboten" 1889 ist in einem Artikel, E.W. unterzeichnet, folgendes darüber zu lesen: Der Teufel wird in der Bibel, z. B. Offb. 12,9, der große Drache, die alte Schlange genannt. Der Drache ist überall, wo die Heilige Schrift ihn erwähnt, ein Sinnbild des Satans. Solange wir noch hochmütig oder auf irgendein eigenes Verdienst stolz sind, so lange ist noch der Drache unser König, und wir vermögen nichts gegen ihn auszurichten aus eigener Kraft. Nur in der Kraft Christi können wir siegen über den Hochmut in uns, über den Drachen, der uns und unsere Mitmenschen beherrschen will.

Der Erzengel Michael stellt sich dem Drachen entgegen:

Wer ist wie Gott? - das ist die Deutung seines Namens -und kämpft uns voran, Jesus Christus verleiht den Sieg!

So wurde der Erzengel Michael als Beschützer der Christen und der Kirche angesehen, und der römische Bischof Gelasius 1. hat ihm bereits 493 ein Fest gewidmet, das seit dem 9. Jahrhundert allgemein gefeiert und auf den 29. September gelegt wurde.

Nach diesem Erzengel hat sich unsere Gemeinschaft genannt. Kämpfen will sie gegen den Teufel, den alten Drachen - nicht zur eigenen Ehre - als rechter Kreuzesritter in der Kraft Christi, um dem Satan möglichst viele Opfer zu entreißen oder andere zu bewahren, dass sie nicht in seine Gewalt geraten.

Darum schmückt dieser Erzengel St. Michael seit 1886 den "Michaelsboten" und jede Mitgliedskarte, und darum feiern wir am Sonntag um den 29. September herum das Michaelsfest. Entworfen hat den Engel der Professor Pfannschmidt, der als Kirchenmaler bekannt ist. Dazu erzählt Graf Pückler: Als er Gelegenheit nahm, den Entwurf sich anzusehen, habe er an ihm die Energie des Überwinders gerühmt, aber entrüstet habe der Künstler ihm entgegengehalten: "Sehen Sie denn nicht, dass ich gerade das Gegenteil habe darstellen wollen, die Ruhe im Sieg, ohne eigene Energie?' Wie treffend spiegeln sich darin die zuvor genannten Gedanken wider! Graf Pückler fügt hinzu: "Wenn wir Christus in uns Gestalt gewinnen lassen, wenn seine Kraft fortan uns belebt und bewegt, ist auch bei uns der Glaube der Sieg, der die Welt überwunden hat.'

So sah Graf Pückler das Wesen der Gemeinschaft an. Dienst, Opfer, Hingabe und der nie rastende Trieb, Seelen zu retten. Hier in Berlin am Wedding haben wir an einem Quell der Gemeinschaftsbewegung gestanden, und Ströme des lebendigen Wassers sind von diesem so eigenartigen Gottesmann, dem Grafen Pückler, geflossen. Es fällt uns zunehmend schwer, diesen klaren Geist innerhalb der Gemeinschaftsbewegung – und auch unseres St.-Michael-Werkes – zu bewahren, zumal hin und her Führer unserer Gemeinschaftsbewegung in unsere Gemeinschaften Not hineinbringen. Die erste Not ist die zunehmende Politisierung unserer Gemeinschaften. Unser Graf war sehr vaterländisch gerichtet. In den Gemeinschaften wurden vaterländische Feste gefeiert, aber sie wären nie gefeiert worden, wenn nicht das evangelistische Wort stets im Mittelpunkt gestanden hätte. Wir sehen mit Schrecken, wie die Politisierung die Geschwister entzweit, sie der Gemeinschaft entzieht, sie träge und unfruchtbar macht. Das hätte unsern Grafen tief betrübt, wenn er das hätte erleben müssen, was wir in diesen politisch erregten Zeiten durchleiden müssen. Kaum ein Geist wirkt so fanatisch, spaltend und unbrüderlich wie der politische Parteigeist. Eine andere Not bereitet die Beantwortung der sicherlich wichtigen Frage, nach welcher Weise wir unsere Mitglieder aufnehmen. Graf Pückler ist von der christlichen Vereinsarbeit zur rechten Gemeinschaftsarbeit übergegangen, und ihm hat die Aufnahme der Mitglieder manche Sorge gemacht: "Es ist eine Sache mit Zittern.' Darum hat er, zuerst weitherzig, nachher die Grenzen immer enger gezogen - aus der Erfahrung, die er in St. Michael gemacht hat. Da hat das Buch unseres Gnadauer Vorsitzenden, Pastor D. Michaelis, manche Unruhe bei unsern Predigern und Altesten hervorgerufen. Es liegt unserem Vorsitzenden mit Sicherheit fern, die Aufnahmebedingungen zu verwässern und so zu erweichen, als ob wir schon solche Leute aufnehmen könnten, die nur "guten Willens sind', wie man fälschlich von ihm behauptet hat. Ganz gewiss hat Pastor Michaelis dabei die Geistesmächtigkeit des apostolischen Zeugnisses im Auge gehabt und die Aussicht auf ein Martyrium, so dass der Entschluss, den Pastor Michaelis für genügend ansah, wesentlich ernster gefasst war, als heute solch ein Entschluss wäre. Da heute oft diese Geistesmacht und das Martyrium fehlt, meint Pastor Michaelis, spreche ich, auch die für die Gesamtgemeinschaft veranstalteten allgemeinen St.-Michaels-Versammlungen tunlichst, d.h. soweit es mir möglich ist, zu besuchen. Ich vertraue dem Herrn Jesu, dass ER mich tüchtig machen wird, Ihm hierin zu dienen und mich sowie die Gemeinde aufzubauen zur Ehre Seines großen Namens. - Unterschrift -Inhalt der Freundeskarte der Christlichen Gemeinschaft St. Michael. Als Freund der Gemeinschaft ist jeder willkommen, der von ganzem Herzen begehrt, Jesu Eigentum zu werden, mit den Bestrebungen der Gemeinschaft einverstanden ist und sein Interesse daran durch Besuch der Versammlungen und nach Möglichkeit auch durch freiwillige Gaben (Monatsbeiträge) bekundet. Freunde der Gemeinschaft, die Jesu Eigentum geworden sind, können sich zur Aufnahme als Mitglied melden und nach angemessener Probezeit als solches aufgenommen werden. Es wird gebeten, etwaigen Wohnungswechsel anzuzeigen und diese Karte beim Wegzug oder bei etwaigem Austritt zurückzugeben. - Der Vorstand -
1. Mitglied der Gemeinschaft kann nur sein, wer sich durch Gottes Gnade als verlorenen Sünder erkannt, aber in Jesu Christi Blut Vergebung der Sünden gefunden hat, der Gotteskindschaft durch das Zeugnis des Heiligen Geistes gewiss geworden ist und fortan nicht mehr sich selbst, sondern dem Herrn und Heiland leben will, der für uns gestorben und auferstanden ist.
2. Mitglieder der Gemeinschaft haben als Glieder am Leibe Christi auf Grund der Heiligen Schrift die Verpflichtung: a) einander in Liebe zu fördern, in Geduld zu tragen und gegenseitig zu ermahnen, b) dem Herrn zu dienen in treuer Erfüllung aller täglichen Berufsgeschäfte, durch Fürbitte, Gaben und persönliche Mitarbeit beim Bau des Reiches Gottes, c) sich der Leitung ihrer Gemeinschaft zu unterstellen und der nach Matth. 18,15-18 von der Gemeinschaft zu übenden Zucht zu unterwerfen.
Die größte Verwirrung hat aber gerade in unseren Tagen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kirche und Gemeinschaftsbewegung hervorgerufen.

Wenn ich den Rufer in diesem Streit, den Hamburger Direktor, Br. Heitmüller, und seinen Freund, Br. Möbius in Neumünster, recht verstehe, meinen sie, wir können nur dann ehrlich und mit unserm Herzen in der Kirche und mit ihr arbeiten, wenn sich die Kirche umstellte und Wesen und Form unserer Gemeinschaft und einer biblischen Gemeinde Jesu Christi annähme, oder weil die Landes- und Volkskirche an entscheidend wichtigen Punkten im schroffen Widerspruch zum Neuen Testament steht und neben dem Glauben auch den krassesten Irr- und Unglauben in ihrer Mitte duldet, kann der Gemeinschaftschrist ein inneres und inniges Verhältnis nur zu den biblisch Gläubigen in ihrer Mitte suchen und pflegen. Resigniert schreibt Br. Heitmüller, der eben noch "um die Spitze des Entschlusses" "gerungen" hat: Wir hatten eine zu hohe Meinung von der Kirche. Wir haben uns endgültig damit abgefunden, dass die Kirche nur ein religiöser Zweckverband ist, der nicht mit den Maßstäben des biblischen Schriftzeugnisses gemessen werden darf, dass sie grundsätzlich darauf verzichtet, eine Erscheinungsform des Leibes Christi zu sein, und dass sie sich damit zufrieden gibt, Erziehungs- und Bildungsanstalt für das Volk im Sinne der christlichen Religion -also nicht des Evangeliums - zu sein. Und er fügt in einer Anmerkung hinzu: Inzwischen haben auch wir alle Hoffnung für die Kirche aufgegeben, weil die Voraussetzungen für eine reformatorische Wiederbelebung fehlen. Mir scheint also, es ist noch nicht so weit, dass es um "die Spitze des Entschlusses" geht. Es ist ein Sturm im Wasserglas, nur der ist anderer Meinung, der sich selbst in seiner Bedeutung überschätzt. Und wenn Br. Heitmüller stark kirchlich interessierte Christen hat beunruhigen wollen, dann fragt man sich, ob es weise ist, in solchen unruhigen Zeiten auch noch diese Unruhe zu schaffen, ganz abgesehen davon, dass selbst bekannte Professoren sich redlich bemühten, stark kirchlich orientierte Christen zu beunruhigen, und ihr Ziel nicht erreichten – denn die Kirche hat schon weit schwerere Angriffe und Notzeiten überstanden. Mir scheint, als versage sich Gott diesen unruhestiftenden Männern. Warten wir auf den Mann, den Gott schickt, um unserer Kirche eine neue Gestalt zu geben! Graf Pückler hat einst im Jahre 1903, als ein Pastor Veerhoff eine neue Reformkirche ("Man sorge also für eine gute Reformkirche mit lauter guten Predigern!") bilden wollte, richtig geurteilt: "Wir selbst sind nicht der Ansicht, dass man für eine gute Reformkirche sorgen soll, das wird das Haupt der Gemeinde selbst tun, falls es überhaupt noch in diesen Äon zu neuen Kirchenbildungen kommen soll. Wofür wir sorgen sollen, ist aber unser und der Brüder Heil. Darum treiben wir Evangelisation und Gemeinschaftspflege, damit die Heiligen zugerichtet werden zum Werk des Amtes, dadurch der ganze Leib erbauet werde. Wir halten es für schwer durchführbar, dass in irgendeiner sichtbaren Kirche alle Ämter den geistlichen Gaben entsprechend verteilt sind. Dagegen kann dies in geistlich geleiteten Gemeinschaften wohl geschehen, indem einfach die vorhandenen und erkannten Geistesgaben benutzt werden. So kann das Ideal der biblischen Gemeinde am ehesten erreicht werden, während alle kirchlichen Versuche erwiesenermaßen gescheitert sind."

Zur Sache selbst muss ich sagen: Alle derartigen Versuche müssen scheitern, weil sie von dem Wunschbilde ausgehen, man könne hier in der offiziellen Kirche oder auch nur in der Gemeinschaftsbewegung eine Gemeinde der Gläubigen darstellen, wo doch selbst die Urgemeinde keine Idealgemeinden waren. Man darf einen Entschluss nicht zuspitzen, der nie zur Zuspitzung gedacht war

Schliesslich muss doch selbst der schärfste Kirchengegner und Kirchenverbesserer sich fragen: Was mag doch die Kirche durch die Jahrhunderte erhalten haben, wenn sie nichts als Abfall, nichts als Zweckverband und Erziehungsanstalt ist? Sollte es nicht das Wort Gottes sein, das Evangelium, das immer noch in ihr verkündet wird? Und wo das Evangelium von Christus, dem Gekreuzigten, verkündet wird, ist Gemeinde Jesu Christi da, ob in der Freikirche, in der Gemeinschaft oder in der offiziellen Kirche.

Das zugeben, heisst endlich die Kirchenfrage wieder auf das richtige Geleise schieben.

Ferner wird jeder zugeben, dass nicht die Form die Hauptsache ist, sondern der Inhalt, nicht die Verfassung, die Satzungen, der Behördenmechanismus, sondern der Geist, der in allem herrscht. Und wenn jemals unsere Kirche, wie einst die katholische Kirche, dem reinen Evangelium keinen Raum mehr geben sollte, wird Gott eine neue Form dem alten Evangelium schenken, und selbst dann wird die alte evangelische Kirche noch weiterbestehen, wie die katholische Kirche noch heute besteht, weil und solange Wahrheitsmomente in ihr weiter wirken dürfen.

Wir aber wollen im Jubiläumsjahr danken, dass unsere St.-Michaels-Gemeinschaft in den bewährten Bahnen unseres Grafen gehen darf. Er hat die einzig richtige Stellung zur Kirche gehabt: Mit ganzem Herzen zur Kirche gestanden, mit objektiver Klarheit sich von ihren behördlich bestimmten Einfluss frei gehalten und dabei die kirchlichen Ordnungen durchaus innegehalten.

So haben wir am Quell der Gemeinschaftsbewegung in Berlin gestanden und dürfen uns freuen, wie aus dem Steingeröll der Berliner Großstadtwüste am Wedding dieser Quell hervorsprang und der "Gesundbrunnen" wurde, der jeden gesund macht, der sich darin wäscht, und so rein und lebendig quillt, dass Wunder der Gnade noch heute zur Ehre Gottes geschehen.

Übersicht über die Geschichte der Christlichen Gemeinschaften St. Michael
Autor: Max Diedrich (1958)

Kapitel 1 - Die religiöse Lage in Berlin um 1880
Kapitel 2 - Eduard Graf von Pückler
Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft
Kapitel 4 - Gemeinschaft - Gemeinschaftsbewegung - Kirche
Kapitel 5 - Die St.-Michaels-Gemeinschaft in ihrem inneren Aufbau
Kapitel 6 - Das St.-Michaels-Werk im äußeren Wachstum
Kapitel 7 - Graf Pückler in seiner Bedeutung für das Reich Gottes
Kapitel 8 - Die Gemeinschaften und Sonderarbeiten
Kapitel 9 - Die religiöse Lage in Berlin um 1955

Überarbeitung von Hellmut Hentschel (2010-2025)

Kapitel 1 - Die religiöse Lage in Berlin um 1880 (überarbeitet 2010)
Kapitel 2 - Eduard Graf von Pückler (überarbeitet 2010)
Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft (überarbeitet 2010)
Kapitel 4 - Gemeinschaft - Gemeinschaftsbewegung - Kirche (überarbeitet 2025)
Kapitel 5 - Die St.-Michaels-Gemeinschaft in ihrem inneren Aufbau (überarbeitet 2025)
Kapitel 6 - Das St.-Michaels-Werk im äußeren Wachstum (überarbeitet 2025)
Kapitel 7 - Graf Pückler in seiner Bedeutung für das Reich Gottes (überarbeitet 2025)
Kapitel 8 - Die Gemeinschaften und Sonderarbeiten (überarbeitet 2025)
Kapitel 9 - Die religiöse Lage in Berlin um 1955 (überarbeitet 2025)
Kapitel 10 - Die religiöse Lage in Berlin um 2025

Geschichte der Christlichen Gemeinschaften St. Michael der Dekade 1870 / Dekade 1880 / Dekade 1890 / Dekade 1900 / Dekade 1910 / Dekade 1920 / Dekade 1930 / Dekade 1940 / Dekade 1950 / Dekade 1960 / Dekade 1970 / Dekade 1980 / Dekade 1990 / Dekade 2000 / Dekade 2010
Jahres-Chroniken ab 1870 (in Bearbeitung)