29.03.1912 - Geburtstag von Hanna Reitsch - Erinnerungen
[zurück]
GESCHICHTE TAG FÜR TAG
29.03.1912 - Geburtstag von Hanna Reitsch - Erinnerungen
Im Jahre 1974 - als 17jähriger - war ich Vorstandsmitglied der Deutschen Luftfahrt-Sammlung, eigentlich ein Verein von Greisen, die als "Alte Adler" bezeichnet wurden (das waren die, die ihre Fluglizenz vor dem 1. Weltkrieg erworben hatten). Die hatten ein kleines Museum in der Schütte-Lanz-Straße (das waren die Namen von Luftschiff-Pionieren) in Berlin-Lichtenrade und dort war ein mit Trümmern aufgeschütteter Berg, der so hoch war wie der in Stölln und eine von dort sichtbare Schneise nach unten, was die Flugstrecke des letzten Fluges Otto Lilienthals erkennen lassen sollte. Das Museum hatte viele Artefakte aus alter Fliegerzeit, nicht viele Menschen interessierten sich dafür, aber offenbar waren diese wertvoll. Ich war eigentlich nur dorthin gekommen, weil ich den Druck unserer Schüler- und Studenten-Zeitschrift "Raumfahrt-Informations-Dienst", dessen Chefredakteur ich war, dort gern auslegen wollte.
Ich wurde von den Alten eingeladen, denn sie meinten, dass sich ihr Verein, der sich nur mit "altem Zeug" (Zitat) beschäftigte, unbedingt eine Raumfahrt-Abteilung zulegen und dass ich diese leiten sollte. Ich fühlte mich damals geehrt, heute, als bald 70jähriger Vorsitzender eines ganz anderen Vereins, sehe ich das so, dass sie einen extrem jungen Menschen mit gewissem interdisziplinären Interesse gesucht hatten, der für die nächsten 50 Jahre ihren Verein weiterführen sollte.
Ich lernte viele interessante Menschen dort kennen. Zum Beispiel Hanna Reitsch. Das war die Frau, die als erster Mensch in der Deutschlandhalle in Berlin mit einem Hubschrauber geflogen war - ganz verrückt und bestimmt extrem laut. Und auch die, die noch einen Tag vor dem Selbstmord Hitlers in der Nähe der Reichskanzlei unter sowjetischem Beschuss in Berlin gelandet war, um den "Führer" nach Bayern mitzunehmen, was dieser aber abgelehnt hatte. Hanna Reitsch war zwar Trägerin des Eisernen Kreuzes I. Klasse, war aber nie der NSDAP beigetreten.
Diese Frau war auch Mitglied dieses Vereins, sie war etwa so alt wie ich heute, ebenfalls noch recht agil, sehr gepflegt, und sehr mütterlich, jedenfalls zu mir. Die ledige und kinderlose Frau im Rollkragenpullover hatte sich gleich neben mich gesetzt und sich vorgestellt und wohl gemerkt, dass ich total verunsichert war, ausgerechnet neben ihr zu sitzen und dass ich mich immer wieder fragte: "Ist das wirklich Hanna Reitsch?". Der Vorsitzende begann die Mitgliederversammlung, Hanna meldete sich: "Was macht denn das Jungchen hier?" und mit einem entschuldigenden Blick zu mir: "Bitte nicht böse sein!" Sie tätschelte meine Hand, die erkaltet war. Der Vorsitzende erklärte, warum ich hier sei, wie wir uns kennengelernt hatten und dass er heute vorschlagen wolle, das Museum mit mir ins Zeitalter der Raumfahrt zu führen. Hanna unterbrach ihn: "Wie stellst Du Dir das vor? Was soll der denn für Kompetenzen haben?" Sie meinte mich. Der Vorsitzende sagte das, was ich heute auch sagen würde: "Nun, er wird uns alle kennenlernen, viel Ahnung von dem bekommen, was wir tun und was wir wollen und irgendwann mal ..." Er wurde wieder unterbrochen. Hanna schlug nicht damenhaft mit der Faust auf den Tisch und sagte: "Das habe ich mir gedacht, dass Du hier einen einführst, den Du so lange auf die Warteliste setzen willst, bis wir alle auf dem letzten Loch pfeifen."
Die Versammlung wurde still, offenbar kannten alle schon Hannas Taktiken der Gesprächslenkung. Der Vorsitzende H.G. Schreurs, alter Adler, rang nach Worten. Hanna Reitsch konnte keiner widerstehen. Er, der immer das Wort führte, fragte sichtlich genervt: "Und was schlägst Du vor, Hanna?" Sie antwortete spontan: "Wir ändern die Tagesordnung, machen eine Ergänzungswahl zum Vorstand und wählen Hellmut in den Vorstand, dann muss er nicht 20 Jahre darauf warten und wir müssen nicht sehen, dass er uns wieder abhaut."
Und so geschah es auch, denn alle waren dafür. Zuletzt hatte der Vorsitzende seine Hand gehoben. Hanna lachte und sagte: "So, und jetzt lassen wir uns den Kaffee schmecken und bitte ein extra großes Stück Kuchen für den jungen Mann hier." (Nicht mehr "Jungchen", immerhin).
Ich war sozusagen im Handstreich der "designierte Führer" dieses Vereins geworden, der aber tatsächlich vollkommen unpolitisch war. Dann starben einige Vorstandsmitglieder schnell hintereinander und der Verein meinte, die Arbeit nicht mehr weiterführen zu können. Die Exponate gingen an das Deutsche Museum in München und ich (18 Jahre!) sollte dort als Teil des Deals Aufsichtsratsmitglied werden. Ich lehnte das aber ab, weil mir das irgendwie zu groß erschien und weil ich gerade beim Deutschen Wetterdienst begonnen hatte und erstmal dort etwas lernen wollte.
Hanna wäre heute schon über 100 Jahre alt. Ich mochte sie. Eine starke Frau, die nach dem Krieg ihren gesunden Menschenverstand zurückbekommen hatte und auf irgend eine Weise die ehrliche Absicht hatte, Deutschland international wieder groß zu machen. Immerhin hatte John F. Kennedy sie "als größte Pilotin der Welt" empfangen. Sie war übrigens nur 1,50 Meter groß. Aber über die wahre Größe einer Frau entscheiden niemals Zentimeter.
Der Text darf unter Nennung der www-Seite und des Namens des Autors "Hellmut Hentschel" weiter veröffentlicht werden.
[zurück]