Kapitel 1 - Die religiöse Lage in Berlin um 1880

Aus Oteripedia
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Logo der Christlichen Gemeinschaft St. Michael



GESCHICHTE DER CHRISTLICHEN GEMEINSCHAFTEN ST. MICHAEL


Autor: Max Diedrich (1958)


(dieser Text ist als ein Geschichtsdokument anzusehen, manche Worte und Ausdrucksweisen sind heute nicht mehr gebräuchlich)





Kapitel 1 - Die religiöse Lage in Berlin um 1880
Der Krieg 1870 hatte unserem Volk einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung gebracht, an dem besonders die Reichshauptstadt teilnahm. Leider war mit diesem keine tiefgehende religiöse Bewegung verbunden. Mag sie zu Anfang des Krieges vorhanden gewesen sein, so war sie sehr bald zum Stillstand gekommen.


In der Masse des Volkes herrschte praktisch wie in den höheren Schichten der Bildung und Wissenschaft theoretisch der Sinn, der auf die Diesseitigkeit eingestellt war. Die Sittenlosigkeit von Paris her zerrüttete vollends die Lebensanschauungen der Gebildeten wie die des Volkes.

Von den Kreisen der akademisch Gebildeten, die, selber im Unglauben stehend, der Kirche ganz entfremdet waren, aber sicherlich den Unglauben als ihr besonderes Vorrecht für sich in Anspruch genommen hatten, während man dem Volke die Religion erhalten zu müssen meinte, ging ihre Entchristlichung und schließlich auch ihre Entkirchlichung auf die Massen des Volkes über. Die Philosophie eines Hegel, Feuerbach, die zersetzende Theologie eines David Friedrich Strauß und die sozialistischen Ideen eines Marx und Lassalle hatten dem Gebildeten wie dem Volke jeglichen inneren Halt und Glauben genommen.

Die Kirche wurde allerseits abgelehnt, und sie hätte damals auch im besten Falle das Vertrauen nicht zurückerwerben können. Die wenigen Kirchengemeinden Berlins außerhalb der inneren Stadt waren nämlich inzwischen zu unübersehbaren Gebilden herangewachsen. Der Pfarrer ging in Amtshandlungen der Taufen, Trauungen und Begräbnisse unter. Der Konfirmandenunterricht in ungeheuer starken Gruppen nahm Zeit und Kraft der bereits überanstrengten Pastoren völlig hin. Die kleinen Kirchen und Kapellen der inneren Stadt mit dem alten Dom konnten nur einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung aufnehmen, so dass Generalsuperintendent Büchsel schrieb: „Die Plätze sämtlicher Kirchen Berlins reichten nicht einmal für die weiblichen Dienstboten aus, wenn sie auf einmal zur Kirche hätten gehen wollen."

Dass in Berlin die aus der Provinz neu zugezogenen Evangelischen der sozialistischen Propaganda am ersten zum Opfer fielen, darf uns daher nicht wundernehmen. Kein Pastor konnte sie seelsorgerlich betreuen. In den überfüllten Kirchen fanden sie keinen Platz, und kamen sie zur Predigt, fanden sie wohl oft genug nicht die Speise, die ihre hungernde Seele brauchte.

Ganz gewiss gab es auf den Kanzeln auch treue Zeugen Gottes, die christliches Leben zu wecken imstande waren! Man braucht nur an Pfarrer Knak an der Bethlehemskirche oder Generalsuperintendent Büchsel an der Matthäikirche oder an die Domprediger Stöcker und Braun zu denken. Aber bei solchen Gemeindeverhältnissen konnte christliches Leben kaum geweckt, geschweige denn gepflegt werden. Da gab es kein Band der Fürbitte, der Liebe und des Wortes, das Pastor und Gemeinde hätte zusammenschließen können. Die Evangelischen mussten innerlich verarmen und verwahrlosen. Das Ergebnis war: Den Gebildeten hatte die Kirche nichts mehr zu sagen, das Volk aber hatte nur Hass und Spott für sie.

Was geschah, diese Kirchen-, Seelen- und Sündennot zu überwinden? Milliarden waren ins Land geflossen, aber Kirchen wurden nicht gebaut. Tausende starben, die fast nie unter Gottes Wort gekommen waren, die nur dem Namen nach Christen waren, in Wirklichkeit aber als Heiden gelebt hatten. Die Kirche tat, was sie in solchem Fall zu tun pflegt: Sie berief eine Versammlung nach Berlin und ließ die Frage, die allerdings die entscheidende Frage war, beantworten: „Was haben wir zu tun, damit unserm Volke ein geistliches Erbe aus den großen Jahren 1870/71 verbleibe?" Wohl wurde ohne jede Schönfärberei der tatsächliche Tiefstand kirchlichen Lebens festgestellt, aber die Verhandlungen über das, was geschehen sollte, blieben ergebnislos. Neue Aufgaben und Ziele wurden nicht aufgezeigt und nicht aufgenommen. Wohl wurde die Frage laut, ob die Volkskirche noch eine Zukunft habe, ob sie nicht vom Staate frei werden müsse. Wohl forderte Professor Beyschlag aus Halle lebendige Gemeinden und gab für die Entkirchlichung auch als Ursache an, die Kirche sei mehr eine Pastoren- und Staatskirche als Volkskirche. Der große Historiker Treitschke warf der Kirche in scharfen Worten vor, die Kirche arbeite nicht mit an den großen Lebensfragen, die die Gegenwart bewegen, sie schelte auf die sündhafte Zeit, aber helfe nicht mit. Dieses Urteil war, so allgemein ausgesprochen, falsch, aber es offenbarte, welche Spannung zwischen Volk und Kirche bestand. Denn Männer wie Ahlfeld, Brückner und vor allem Wichern hatten bereits auf die sozialen Aufgaben der Kirche hingewiesen.

Unermüdlich hatte Johann Heinrich Wichern als ein Prophet schon vor 1848 die steigende Not in den Großstädten scharf beleuchtet und in einer Audienz dem König Friedrich Wilhelm IV. den Plan zur Gründung der Berliner Stadtmission vorgetragen. Doch verhinderte die Revolution die Verwirklichung dieser Gedanken. Er empfahl, Parochialvereine zu gründen, die den Pastoren zur Seite stehen sollten, weil es darauf ankam, das Wort Gottes unter die Menschenmassen zu bringen. 18 Parochialvereine wurden auch begründet, aber die politische Lage war der Entfaltung kirchlichen Lebens sehr hinderlich und der Wille zur Selbstbetätigung nicht rege genug, um auf diesem Wege etwas zu erreichen. Die Vereine gingen nacheinander wieder ein. Erst 1858 trat man auf Veranlassung des inzwischen nach Berlin berufenen Wichern den Plan wieder näher und gründete das Johannisstift in Plötzensee-Berlin, um Stadtmissionare für Berlin auszubilden. Sie sollten sich der Armen annehmen und den Familien der Gefangenen und den aus dem Gefängnis Entlassenen nachgehen. Auch dieser Versuch wollte nicht recht gelingen, trotzdem die über die Verhältnisse der bei ihr sich meldenden Armen durch die Stadtmissionare vornehmen ließ.

Erst als zum Leiter der Stadtmission 1875 Pastor Adolf Hoffmann, der zugleich Reiseagent des Zentralausschusses für Innere Mission war, berufen und der Sitz der Stadtmission ins Melanchthon-Haus in der Sebastianstraße verlegt worden war, machte diese Arbeit Fortschritte.

Inzwischen hatte der Berliner Generalsuperintendent D. Brückner angesichts der durch die Zivilstandgesetzgebung am 1. Oktober 1874 offenbar gewordenen Unkirchlichkeit auch seinerseits mit Stadtmissionsarbeit im Rahmen der Kirchengemeinden begonnen, damit den Pastoren diese Stadtmissionare als Gemeindehelfer dienen sollten. Hierfür war Pfarrer Jentzsch gewonnen. Wäre nicht das Kaiserhaus mit großen Gaben eingesprungen, hätte Brückner überhaupt nichts ausrichten können, zumal ihm die Freiheit des Handelns nicht gegeben ward. Als oberster Hirte nämlich musste er auf die kirchliche Ordnung gebührende Rücksicht nehmen, wie das folgender Fall ins helle Licht stellte: Der im lebendigen Glauben stehende Pastor Prochnow von Johannes-Moabit nahm zu seiner Hilfe einen solchen Stadtmissionar von seinem Generalsuperintendenten, aber der liberale Gemeindekirchenrat beschwerte sich über diesen Eingriff in seine Rechte bei demselben Generalsuperintendenten, forderte von ihm die Abberufung und erreichte sie auf Grund des Buchstabens der kirchlichen Ordnung. So hätte die kirchliche Ordnung die kirchliche Unordnung verewigt, wenn nicht ein kirchlich unabhängiger und tatkräftiger Mann in dem Hofprediger Adolf Stöcker der Kirche in ihrer großen Not als Retter erstanden wäre. In seine Hände wurde nun am 9. März 1877 das bis auf den heutigen Tag im Segen arbeitende Stadtmissionswerk gelegt, zusammengeschweißt aus der Stadtmission des Johannisstiftes und der des Generalsuperintendenten. Am 23. April fand die erste Sitzung des Vorstandes der vereinigten Stadtmissionen statt. Die Pastoren Hoffmann und Jentzsch mit neun Stadtmissionaren zurückzugewinnen.

Auch Stöcker wollte vor allem für die Kirche arbeiten, er stellte die Stadtmissionare den Gemeindepfarrern zur Verfügung. Es war noch nicht das, was ein von Gott entzündetes Herz begehrte und suchte: Die Bewegung der Menschen zu Gott hin und der Zusammenschluss der gläubigen Menschen zur Arbeit an den Massen und zum Aufbau der Gemeinde Gottes.

Dieser letztgenannte Weg war schon versucht worden. In Privathäusern kamen nämlich seit 1860 in Berlin junge Edelleute zusammen, um sich durch Gebet und Gottes Wort innerlich zu erquicken. Weil sie dabei Tee tranken, verlachte das Volk sie unter dem Spottnamen „nasse Engel", und weil sie öfters in der Dessauer Straße zusammenkamen, nannte man ihr Haus „Engelsburg". Der Träger dieser Bewegung war Andreas Graf Bernsdorff, der in England zum persönlichen Glauben gekommen war, ihm schlossen sich an Baron Jasper von Oertzen und der allgemein bekannte General von Viebahn, später Graf Pückler, von Rothkirch, Phildius und Baron von Ungern-Sternberg, der als 15jähriger bereits 1840 gläubig geworden war, der Begründer der Deutschen Evangelischen Buch- und Traktatgesellschaft.

Graf Bernsdorff, der in einem der wenigen Jünglingvereine in der Oranienstraße arbeitete, rief zum Entsetzen der liberalen Pastoren die erste Sonntagsschule ins Leben. Hier in diesem Kreise bewegte sich Graf Pückler, als Werkzeug ausersehen, in Berlin geistliches Leben nach Art der Gemeinschaftsbewegung zu erwecken.

Übersicht über die Geschichte der Christlichen Gemeinschaften St. Michael
Autor: Max Diedrich (1958)

Kapitel 1 - Die religiöse Lage in Berlin um 1880
Kapitel 2 - Eduard Graf von Pückler
Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft
Kapitel 4 - Gemeinschaft - Gemeinschaftsbewegung - Kirche
Kapitel 5 - Die St.-Michaels-Gemeinschaft in ihrem inneren Aufbau
Kapitel 6 - Das St.-Michaels-Werk im äußeren Wachstum
Kapitel 7 - Graf Pückler in seiner Bedeutung für das Reich Gottes
Kapitel 8 - Die Gemeinschaften und Sonderarbeiten
Kapitel 9 - Die religiöse Lage in Berlin um 1955

Überarbeitung von Hellmut Hentschel (2010)

Kapitel 1 - Die religiöse Lage in Berlin um 1880 (überarbeitet 2010)
Kapitel 2 - Eduard Graf von Pückler (überarbeitet 2010)
Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft (überarbeitet 2010)

Geschichte der Christlichen Gemeinschaften St. Michael der Dekade 1870 / Dekade 1880 / Dekade 1890 / Dekade 1900 / Dekade 1910 / Dekade 1920 / Dekade 1930 / Dekade 1940 / Dekade 1950 / Dekade 1960 / Dekade 1970 / Dekade 1980 / Dekade 1990 / Dekade 2000 / Dekade 2010
Jahres-Chroniken ab 1870 (in Bearbeitung)