Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft (überarbeitet 2010)

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GESCHICHTE DER CHRISTLICHEN GEMEINSCHAFTEN ST. MICHAEL


Autor: Max Diedrich (1958), überarbeitet von Hellmut Hentschel (2010)







Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft (überarbeitet 2010)
Im Jahre 1871 gewann Deutschland zum letzten Mal einen Krieg gegen Frankreich. Dieser Sieg hatte zur Folge, dass das Deutsche Kaiserreich gegründet wurde.


Immer mehr Menschen drangen Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach Arbeit nach Berlin. Viele von ihnen hatten nicht einmal ein Quartier und verbrachten die Nächte in Kneipen. Auch waren sie von Kirche und Glauben entfremdet. Hofprediger Stöcker, den wir schon im vorigen Kapitel kennen gelernt haben, war in Amerika gewesen und hatte dort die Evangelisten Moody und Sankey in ihrer gewaltigen Zeugniskraft gehört. Ebenso hatten sie in London Earl of Shaftesburys Stadtmissionsarbeit mit 400 Stadtmissionaren kennenlernen dürfen. Dem 7. Earl of Shaftesbury Anthony Ashley-Cooper war damals einer der bekanntesten britischen Politiker und Philanthropen. Er hatte für die Torys ins Unterhaus gewählt worden und war unmittelbar darauf zum Führer der Bewegung für Fabrikreformen geworden. Eines seiner Hauptinteressen war das Kindeswohl; er war ein vehementer Unterstützer von Florence Nightingale. Das Shaftesbury Memorial auf dem Londoner Piccadilly Circus wurde 1893, acht Jahre nach seinem Tod, zum Gedenken an seine menschenfreundlichen und christlichen Taten errichtet. Der nackte, geflügelte Bogenschütze an der Spitze des Denkmals wird offiziell "der Engel der christlichen Nächstenliebe" genannt, ist aber populär geworden als "Eros". Lord Shaftesbury war mit Lady Cowper verheiratet. Sie hatten drei Kinder.

Hofprediger Stöcker ließ der Gedanke nicht los, eine ähnliche Arbeit wie die von Moody in Amerika oder von Lord Shaftesbury in London auch in Berlin zu begründen. Er setzte sich mit Professor Christlieb in Bonn und zugleich mit Baron von Oertzen in Hamburg in Verbindung. Man einigte sich darauf, den Deutschamerikaner Friedrich von Schlümbach als Evangelisten nach Berlin einzuladen. Von Schlümbach brachte beträchtliche Erfahrungen als Prediger einer Methodistengemeinde, als Mitglied der deutsch-evangelischen Synoden in USA und als Generalsekretär des Nationalbundes der Deutsch-Christlichen Vereine Junger Männer mit Sitz in New York mit. Sein Herz brannte für die ungeretteten Menschen.

Im Jahre 1881 kam Schlümbach zum ersten Mal wieder nach Europa, um in London an einer "Internationalen Jünglingskonferenz" teilzunehmen. Hier lernten ihn die deutschen Vertreter der deutschen Jünglingsvereine kennen und luden ihn im Jahre 1882 nach Stuttgart zum Bundesfest des Süddeutschen Jünglingsbundes ein. Danach reiste er nach Berlin, berufen von Stöcker und von dem Pfarrer an der Nazarethkirche, Diestelkamp. "Den müssen wir haben", sagte Stöcker, als er Schlümbach in London gehört hatte. In den Kneipen des Nordens innerhalb der riesigen Nazarethgemeinde hielt Schlümbach nun wochenlang täglich Versammlungen und auch Graf Eduard von Pückler fand sich jeden Abend ein. Später schrieb Pückler über Schlümbach: "Das war ein Mann, der die moderne Arbeit verkörperte. Er kam nicht in kirchlicher Manier, sondern als gemütlicher, freundlicher Kamerad zu den Leuten. Zur großen Verwunderung der Berliner stellte er sich hin und sang Sololieder, daß die Fenster klirrten. Es gab einen ungeheuren Zulauf zu seinen Versammlungen, deren er täglich mehrere hielt. Er hatte den Boden Berlins für wirkliche Reichsgottesarbeit zubereitet."

Die Popularität dieses Predigers wurde so groß, daß selbst die großen Säle die Zuhörer nicht mehr zu fassen vermochten. Der "Reichsbote' vom 23. Januar 1883 schrieb über diese Versammlungen: "Schlümbach wollte die unkirchlichen Massen erreichen. Die Einladungen erfolgten nicht in der Presse, sondern durch Karten, die nur in ein paar Straßen abgegeben wurden. Solche Helfer, die die Karten von Haus zu Haus trugen, fanden sich. Immer 8-14 Tage lang fanden die Versammlungen in demselben Lokal statt. Abend für Abend stellten sich die Zuhörer ein, zuerst 200, bald 500, 700, 1000 und mehr. Die Herzen wachen auf. In vielen Zuschriften und auch mündlich drückten die Erweckten dem Pastor von Schlümbach ihren Dank aus und geben Gott die Ehre. Bald ist es ein Trunkenbold, der ihn um Hilfe und Fürbitte bittet, bald eine Hehlerin, die ihm schreibt, sie sei gewonnen und entschlossen, alles von ihr Gestohlene zurückzugeben, dann wieder ein Sozialdemokrat, der ihm mitteilt, er sei von seinem Irrweg gerettet und habe nun Frieden gefunden und mit ihm viele andere. Ein anderer schickt seine goldene Uhr als Dankopfer zum Bau des Reiches Gottes. Trunkenbolde, Witwen, Konfirmanden, am Rande des Verderbens angekommene Mädchen bekennen ihre Sünden, finden den Weg zum Frieden, lernen beten und glauben. Der Jünglingsverein blüht auf, der Männerverein, dreifach gewachsen, sieht seine Glieder jetzt in treuer Mitarbeit. Der Kirchenbesuch nimmt so zu, daß am Abend Parallelgottesdienste nötig werden."

Und ähnlich äußert sich Graf Pückler: "Entkirchlichte Leute wurden allabendlich Besucher der Versammlungen, Gewohnheitschristen wurden freudige Bekenner, und selbst notorische Diebe und Einbrecher lagen unter dem Kreuz Christi und fanden Gnade.'

Natürlich blieb diese Situation auch nicht ohne Kritik. Ein namhafter Geistlicher sagte über die Versammlungen Friedrich von Schlümbachs: Da kommen diese Herren wie Sternschnuppen über das Meer herüber, durchziehen unsere Gemeinden und dann verschwinden sie wieder. Es bleibt nichts als Unruhe. Man tat diese Bewegungen ab als englische und amerikanische Pflanzen, die auf deutschem Boden doch nicht gedeihen könnten. Wie gut, daß der Generalsuperintendent Braun, der 1884 nach Berlin gekommen war und bisher in Gütersloh in großem Segen gearbeitet hatte, seine schützende Hand über diese junge Bewegung hielt und sich besonders der gläubigen Christen annahm! Rückblickend schrieb später Graf Pückler:

Ich machte viele politische Versammlungen mit - gemeint sind wahrscheinlich die berühmten Eiskellerversammlungen Stöckers -, aber ich fühlte, der Kern bleibt in ihnen doch unberührt. Hier ist der tiefe Unterschied zwischen Stöckers mehr politischem Auftreten und diesen Versammlungen Schlümbachs klar erkannt. - Hier am Wedding war es anders. Das Wort Gottes faßte die Herzen, und Gottes Geist wirkte mächtig an vielen. Damals gerade machte ich mein Assessorexamen. Ich war überzeugt, daß das nicht mein Lebensberuf bleiben würde, aber auch überzeugt, daß Gott mir zeigen würde, was ich tun sollte. Am Schluß einer jener Versammlungen am Wedding forderte mich Pastor von Schlümbach zu einem Projekt auf, das er vorhatte. Wir alle hatten das Gefühl, daß das, was uns Gott hier geschenkt, gepflegt und die Bewegung weitergeführt werden müsse.

Da stand vor dem jungen Grafen und gerade zum Gerichtsassessor Beförderten eine große Aufgabe, ein herrliches Ziel, aber auch eine schwere Verantwortung, die er nicht meinte allein tragen zu können: Diese so gesegnete Evangelisationsarbeit zu übernehmen, die gläubig gewordenen Menschen zu sammeln und weiterzuführen. Er meinte dazu als Laie kein Recht zu haben. Auch Friedrich von Schlümbach erfuhr von den Zweifeln des Grafen und gab ihm Folgendes zu bedenken: "Bibelstellen betreffs der Laienarbeit? Da ließen sich viele anführen. Joh. 17,20 gibt einen Schlüssel zum hohen Christengedanken. Ein Volk, ein hohepriesterliches Volk! - Aber nun erste Laienarbeit: Siehe Apg. 1,1-6, Witwenpflege 8,1: Zerstreuten sich alle! Vers 4 taten es auch alle! Apg. 13,1: Simon der Schwarze, auch ein Prediger und Lehrer, d.h. ein Laie, der Gottes Wort auslegt. Aus den Aufgezählten werden nur zwei wirklich in den Predigerstand eingesetzt, Barnabas und Paulus. Apg. 15,39.40. Wer waren Markus, Silas? Laien, die dem Apostel helfen sollten. Röm. 16! Welch ein Blick in die Tätigkeit der Laien in Rom, wo doch noch keine richtige apostolische Gemeinde bestand! Apg. 18, 24-28: Apollos, und dann Vers 26 Aquila: ,Legten ihm den Weg Gottes noch fleißiger aus.' Laienarbeit. Es gibt unendlich viele Beweise in der Heiligen Schrift, dass Gott will, dass in seinem Reiche allerlei Arbeit getrieben werde. Was Deutschland am meisten not tut, ist Laientätigkeit. Alle Länder, selbst Frankreich, sind darin weiter. Hier, wo die meisten tüchtigen Kräfte zu finden sind, schläft alles, und deshalb gehen Hunderttausende zugrunde. O welch ein Elend! Da schiebt immer einer die Last auf den andern, statt alles zu vergessen und Christus zu lieben. Es ist tatsächlich wahr: das deutsche Volk geht unter an christlicher Tätigkeit. Manche Theologen lehren oft, was nichts taugt, die Bibel zersetzen sie und lassen nur gelten, was in ihren Kram paßt. Nein, es muß anders kommen. Die gläubigen Männer müssen an systematische christliche Tätigkeit gesetzt werden, dann kommt neues Leben, und Kaiser und Reich sind gesichert, und das Reich Gottes faßt wieder Wurzel in den Herzen. Nun Gott befohlen, lieber Graf, stehen Sie fest für den Herrn! Ihrer harrt viel Arbeit, und Gott wird es unter Ihren Händen segnen. Nur mutig! Motto für Sie Jos. 1, 7-9: Sei nur getrost und sehr freudig ...! Es beten viele Seelen für Sie, daß Sie Mut fassen möchten und arbeiten. Ihr F. von Schlümbach

Dieser Brief überwand die letzten Bedenken des Grafen Pückler. Als nach dieser gesegneten dreimonatigen Evangelisationsarbeit Schlümbach in andere Stadtgegenden Berlins berufen wurde, beschloss das kleine Komitee, zunächst nur aus Pastor von Schlümbach, Pastor Diestelkamp und Graf Pückler bestehend, das Werk Gottes getrosten Mutes in die Hand zu nehmen. Nach mehr als 20 Jahren schreibt Graf Pückler: Mag auch der Reiz, in einer so schönen Arbeit zu stehen, mitbestimmend gewirkt haben, schließlich hat doch wohl das kleine Fünklein Glaube, das vorhanden war, unserm Gott die Möglichkeit gegeben, uns durch die mancherlei großen und schweren Nöte des Werkes hindurchzubringen. Er schaffte gleich zu Anfang Rat, indem sieh sofort liebe Freunde fanden, die das Werk tragen halfen, vor allem - Ende Januar 1883 - der Graf Andreas Bernstorff.

Das Komitee suchte für seine neue christliche Erweckungsbewegung einen Mittelpunkt am Weddingplatz. Gegenüber der damals im Bau befindlichen Dankeskirche war der "Fürst Blücher", ein berüchtigtes Tanzlokal mit Branntweinausschank. Im Volksmund wurde dieses Haus "Zum Blutigen Knochen" genannt, weil mancher Gast im Alkoholrausch sein Leben dort nach einer tödlichen Schlägerei ausgehaucht hatte. Zwischen Weihnachten 1882 und Neujahr 1883 wurde der Kauf des Hauses abgeschlossen und am 8. Januar erscholl dann bereits, in beiden Sälen gleichzeitig, vor über 1000 Menschen die Predigt des Evangeliums.

Der Kaufpreis des Hauses betrug damals 113.500,- Reichsmark. Diese wurden beglichen durch die Übernahme der auf dem Hause ruhenden Hypothekenschulden und durch Kapitalien, die Freunde der Arbeit vorschossen. Da zur Renovierung des Hauses auch noch mehrere tausend Mark erforderlich waren und dazu das sämtliche vorgeschossene Geld auf das Haus eingetragen worden ist, betrug die Summe der auf dem Hause lastenden Schulden 119.500 RM. Zum Haus gehörte noch ein unbebautes Grundstück, das ebenfalls genutzt werden konnte. Der erste Plan, Läden auszubauen, wurde aus naheliegenden Gründen bald fallen gelassen und statt dessen eine Herberge zur Heimat für wandernde Handwerksgesellen darauf errichtet. Kaiser Wilhelm I. trug auch sein Scherflein zum Erwerb und zur Renovierung des Hauses bei: Er übersandte 2000 Reichsmark, die Kaiserin 500 Reichsmark. So kam nach und nach eine Summe von 38.000 RM zusammen.

Wegen der Kosten richteten wir uns durch Aufruf an die evangelische Christenheit, und bald konnten wir mit innigem Dank gegen Gott reichliche Gaben in Empfang nehmen. Selbst Kaiser Wilhelm I. übersandte eine Gabe von 2000 Reichsmark, die Kaiserin 500 Reichsmark. So kam nach und nach die Summe von 38.000 Mark zusammen. Ein Dienstmädchen übersandte 3 Reichsmark und schrieb dazu in einem Brief: "Da ich viele Jahre neben dem ,Fürsten Blücher' in der Fennstraße eine christliche Freundin hatte, die ich häufig des Sonntags besuchte, auch eine Zeitlang selbst dort gewohnt habe, wo doch am lieben Sonntagnachmittag die immerwährende Tanzmusik recht störend und der Gedanke an die Entheiligung des Sonntags sehr betrübend war, so habe auch ich mit meiner Wenigkeit die Umgestaltung dieses Hauses (neben dem lieben Gotteshause wie erwünscht) mit großer Freude begrüßt und deshalb mit ebensolcher Freude und dem herzlichen Wunsche und Seufzer zum Heiland, daß Er das Scherflein segnen wolle, die kleine Gabe geschickt. Ich wünsche sehr, daß wirklich tausend Mädchen, die sich ihr Brot noch ehrlich verdienen können, auf denselben Gedanken kommen möchten, aber ich kenne nun gerade die Gegend und auch manche Familie, der es recht not täte, daß ihr mit Gottes Wort nahe getreten würde, wohnen doch in einem Hause nahe an 50 Familien im Vorder- und Hofgebäude mit sehr vielen Kindern, die mit ganz geringer Ausnahme wenig oder nichts vom lieben Gottesworte wissen. Ein Arbeiter, ganz in der Nähe der Kirche wohnend, der aber nicht hineingeht, sagt: ,Die Gegend ist nun einmal verwildert, da ist nichts zu ändern.' Aber der Glaube und die Liebe sprechen: ,Der Gott, der da will, daß allen Menschen geholfen werde, der wird's ändern zu seiner Zeit'!

Übersicht über die Geschichte der Christlichen Gemeinschaften St. Michael
Autor: Max Diedrich (1958)

Kapitel 1 - Die religiöse Lage in Berlin um 1880
Kapitel 2 - Eduard Graf von Pückler
Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft
Kapitel 4 - Gemeinschaft - Gemeinschaftsbewegung - Kirche
Kapitel 5 - Die St.-Michaels-Gemeinschaft in ihrem inneren Aufbau
Kapitel 6 - Das St.-Michaels-Werk im äußeren Wachstum
Kapitel 7 - Graf Pückler in seiner Bedeutung für das Reich Gottes
Kapitel 8 - Die Gemeinschaften und Sonderarbeiten (dieses Kapitel ist in Bearbeitung)
Kapitel 9 - Die religiöse Lage in Berlin um 1955

Überarbeitung von Hellmut Hentschel (2010)

Kapitel 1 - Die religiöse Lage in Berlin um 1880 (überarbeitet 2010)
Kapitel 2 - Eduard Graf von Pückler (überarbeitet 2010)
Kapitel 3 - Die Entstehung der St.-Michaels-Gemeinschaft (überarbeitet 2010)

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Jahres-Chroniken ab 1870 (in Bearbeitung)