Brief an meinen Enkel Justus

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Lieber Justus,

Du wunderst Dich, warum Deine Großeltern Dir eine Bibel schenken. Zumal Ihr ja schon so viele Bibeln zu Hause habt. Mir ging es genau so vor mehr als 40 Jahren. Ich hatte drei oder vier Bibeln, aber ich las in keiner von ihnen. Wir lernten Christen kennen, die uns darauf hinwiesen, wie wichtig es sei, "Gottes Wort" zu lesen. Ich war nicht dagegen, aber es fehlte irgendwie immer die Zeit ... oder war es die Lust?

Ich bekam eine Postkarte von einem früheren Freund. Wir hatten uns getrennt, weil ich Staatsdiener und er ein Kleinkrimineller geworden war, das schien nicht mehr zusammenzupassen. Nach Jahren schrieb er mir nun, dass er ein "wiedergeborener Christ" geworden sei und dass er sich unbedingt mit mir treffen wolle.

Ich war neugierig und fuhr zu ihm. Der Mann war völlig verändert, es schien, als kenne er die Bibel auswendig. Seine ganze Sprache war anders als früher, ich glaube, er sprach die "Sprache Kanaans" (so nennt man im Volksmund Leute, die nur noch in biblischen Begriffen reden). Mir wurde bald klar, dass er sein extremes Leben von früher in ein anderes Extrem geführt hatte und, ehrlich gesagt, war mir nach einer halben Stunde die Zeit zu schade. Als er einen weiteren Tee aufsetzte, blätterte ich gelangweilt in dem Buch, das neben mir auf der Couch gelegen hatte. Es war eine Studienbibel. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen. Schon nach kurzer Zeit wurde mir klar, dass sich der Besuch doch gelohnt haben könnte. Und so schrieb ich mir den Buchtitel auf.

In der Buchhandlung stellte sich heraus, dass dieser Buchtitel nicht gerade preiswert war und mein Mut, das Buch zu kaufen, sank. Wir hatten doch schon so viele Bibeln zu Hause, wozu noch diese? Da würde ja auch nur das Gleiche drinstehen. Ich ging ohne Buch aus diesem Laden hinaus, aber der Gedanke an dieses Buch verfolgte mich geradezu.

Nach vielen Tagen traf ich die Entscheidung, dieses Buch doch zu kaufen. Ich saß an meinem Schreibtisch und schlug das Buch auf. 1. Buch Mose, Kapitel 1, Vers 1: "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde." Doch Moment! Das kannte ich schon. Das war genau das, was in den anderen Bibeln auch stand. Doch hatte ich etwas Anderes erwartet? Ich schlug das Buch wieder zu und dachte an das Geld, das ich offenbar verschwendet hatte. Dann fiel mir ein Wort eines Christen ein, der mir geraten hatte, zu beten, wenn ich etwas von Gott erwarten würde.

Nun erwartete ich nicht direkt etwas. Ich wollte eigentlich nur ein gutes Gewissen haben, das mir zureden sollte, dass die Ausgabe für dieses Buch doch eigentlich ganz gut gewesen war. Offensichtlich war das alles eine Glaubensfrage und ich betete zu Gott: "HERR, ich habe einen Haufen Geld für dieses Buch ausgegeben. Ich möchte gern das glauben, was darin steht, damit es mein Leben verändert. Aber ich schaffe das wohl nicht ohne Dich. Ich bitte Dich um Deine Hilfe. Amen."

Ich schlug das Buch wieder auf. Der erster Vers war noch immer der gleiche. Doch jetzt bemerkte ich eine kleine Fußnote mit dem Hinweis "Joh. 1,1". Im Konfirmandenunterricht hatte ich die Namen der biblischen Bücher gelernt, und so wusste ich, dass es eine Erklärung zum 1. Mose 1,1 dort im Johannesevangelium geben musste. Ich blätterte dorthin und las: "Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort." Das war sehr rätselhaft für mich. Ist das Wort etwa nicht nur ein Wort, sondern steht es für ein denkendes Wesen? Und wieder bemerkte ich eine Fußnote, die lautete: "1. Joh. 1,1". Ich blätterte also zum 1. Johannesbrief und las: "Was von Anfang an war, was wir gehört und gesehen haben mit unseren Augen, was wir angeschaut und mit unseren Händen betastet haben, es betrifft das Wort des Lebens." Und beim Weiterlesen wurde mir klar, dass Jesus Christus mit diesem "Wort" gemeint war.

Ich blätterte zurück zum 1. Buch Mose 1, Vers 2 und wiederholte die Prozedur. Ich brauchte eine ganze Nacht, um auf diese Weise das erste Kapitel der Bibel zu lesen und wurde davon nicht müde. Durch das Blättern von einer Bibelstelle zur nächsten fand ich für viele Fragen, die ich mir bisher noch gar nicht gestellt hatte, die Antworten. Es war wie eine Expedition in ein fernes, unbekanntes Land, das mir mit den Monaten und Jahren immer vertrauter wurde.

Ich besuchte nun häufiger die Gottesdienste, absolvierte Bibelfernkurse und ich wurde sogar Schüler auf einer Bibelschule. Überall konnte ich viel lernen, aber am meisten habe ich gelernt durch das Wort Gottes selbst. Es gibt keinen besseren Lehrer als Jesus und das, was Er in Seinem Wort, der Bibel, sagt, ist von der ersten bis zur letzten Seite das Wichtigste, was wir in unserem Leben erfahren können.

Manche Dinge in der Bibel sind mir bis heute nicht vollständig erschlossen. Das ist aber kein Grund, die Bibel deswegen zu verachten. Manchmal muss man Jahre investieren, um etwas zu verstehen und wenn man es erreicht hat, ist der neu erworbene Besitz dieses Wissens besonders kostbar.

Gottes Wort ist kein magisches Buch. Man sollte nicht mit geschlossenen Augen irgend eine Seite aufschlagen und auf irgend einen Satz tippen und dann versuchen, herauszulesen, was einem Gott nun zu sagen hat. Eigentlich haben wir Christen das gar nicht nötig, denn alles, was wir wissen müssen, steht in diesem Buch, das leider auch viele Christen gar nicht so gut kennen, wie sie es vorgeben.

Durch das Lesen dieses Buches werden wir nicht automatisch zu besseren Menschen, aber wir sehen immer klarer die Kluft, die Jesus durch Seinen Tod am Kreuz überwunden hat. Die Bibel zeigt aber nicht nur unsere Mängel auf, sondern sie zeigt uns auf, wie Gott uns sieht. Wenn einem Menschen bewusst wird, wie sehr Gott ihn liebt und warum Er das tut, treibt es nicht selten diesem Menschen die Schamesröte ins Gesicht. So sagt die Bibel zum Beispiel, dass wir "Botschafter Gottes" sind. Oder "Kinder Gottes". Oder "Herausgerufene". Und noch Dutzende von weiteren Bezeichnungen, von denen wir denken, dass sie kaum auf uns persönlich zutreffen können.

Dennoch ist es aber so. Gott sieht nicht unsere Mangelhaftigkeit, sondern Er sieht uns durch Jesus hindurch, und damit sind wir in Seinen Augen kostbar, selbst dann, wenn wir an uns nichts Kostbares feststellen können.

Vielen Christen, denen das klargeworden ist, formulieren ihre Gebete vorsichtiger, weil sie Angst davor haben, ihre eigenen Lebenspläne aufs Spiel zu setzen. In jeder Gemeinde des Reiches Gottes ist diese Spezies in der Mehrheit. Und die, die beten: "Herr, tue mit mir, was Du willst und bringe mich dorthin, wo Du mich haben willst", werden meist von den "Vorsichtigen" als unreif angesehen, selbst dann, wenn sie sich in ihrem Innersten wünschen, selbst so beten zu können.

Du musst Dich auf keine Seite schlagen, denn das will Gott gar nicht. Du kannst einfach so bleiben, wie Du bist: Neugierig, offen und mitfühlend. Gute Voraussetzungen für ein Leben sowohl wie bei Paulus als auch wie bei Tabitha. Die Wahl dafür liegt nicht bei Dir. Du hast lediglich die Wahl, das herauszufinden, was Gott von Dir möchte, oder es zu lassen. Du hast die freie Wahl, damit zu beginnen, entweder heute oder erst in Jahren. Gott wird immer an Deiner Seite sein, und je mehr Du Dich auf Ihn einlässt, umso erstaunlicher wird Dein Leben verlaufen.

Das wünsche ich Dir. Das wünschen wir Dir. Gott segne Dich.
Dein Großvater.